Himmel und Erde verweben sich miteinander. Die U-Initiale des prunkvollen Bischofssammelablasses für das Nürnberger Heilig-Geist-Spital aus dem Jahr 1336 ist kunstvoll und fantasievoll illustriert. Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Drache dort, der alles trägt (zentrales Bild). Was ich hier auf dieser Urkunde zu suchen habe, kann niemand erklären. Auch der Ausstellungskatalog nennt meine Darstellung „sicher ohne tieferen Sinn“. Na, ist das nicht eine Einladung, die Fantasie spielen zu lassen?
Für drei Monate bin ich nun hinter Glas gebannt: Das Ausstellungskabinett der Stadtbibliothek verwandelt sich unter dem Titel „Bilderpracht und Seelenheil“ bis zum 4. Mai in eine Schatzkammer: Die prachtvollen Miniaturen der Urkunden zeigen Heilige und Stifter – aber auch das Ringen um das Seelenheil.
Selbst ich, der Drache, bin seit Jahrhunderten gut belastet: Eine ganze Messfeier findet auf mir statt. Die Szene zeigt gerade die Wandlung der Hostie, die ein Priester erhebt. Darauf steht ein Figürchen „mit Kreuznimbus“. So heißt es im Katalog. Es erhält von einem Engel aus dem Himmel einen Kranz oder vielleicht eine Dornenkrone. Ein anderer Engel trägt eine Kerze. Umrahmt ist dies links von zwei Figuren, die sich umarmen oder miteinander kämpfen (vielleicht wie Jakob mit dem Engel, so eine Deutung), während eine gesegnet wird. Und auch sie rahme ich. Doch mein feuerspeiendes Maul wendet sich nach außen, weg von Engeln und Messe.
Welch ein schönes Bild also trage ich! Diese Urkunden der Sammelablässe waren nicht für die heimische Truhe gedacht, sondern wurden in Kirchen und Spitälern öffentlich zur Schau gestellt oder bei Prozessionen mitgetragen. So erklärte Christine Sauer, die Leiterin der Nürnberger Stadtbibliothek – wie ich selbst hören konnte. Die Prunkurkunden sollten die Gläubigen quasi als Werbeplakate motivieren, sich auch an dem Ablass zu beteiligen.
Konrad Groß, Reichsschultheiß und enger Freund Ludwigs des Bayern, ist mein Herr. Er stiftete 1336 einen Sammelablass auf meiner Urkunde für alle, die dem Rachen des feurigen Drachen entfliehen wollten. Die Hauptinitiale dieser Urkunde – also ich – malten erst Nürnberger aus. Sie zeigt, wie weit entwickelt die Kunst hier mehr als 150 Jahre vor Dürer war. Die Päpste stellten die Urkunden aus, aber damit waren sie noch nicht fertig. Erst zu Hause erhielten sie ihre schöne Form – fast nach dem IKEA-Prinzip.
Die Urkunden sind datiert. Dadurch weiß man, wann die Illustrationen entstanden. Sie muss dann derselbe Illustrator gefertigt haben, der auch Buchmalereien der Epoche zuzuordnen ist. Das zeigen Stil-Vergleiche. Diese sind aber nicht namentlich bekannt. Denn die Illustratoren des Mittelalters traten noch mehr hinter ihrem Werk zurück als die Schreiber. Den Namen meines Schöpfers verrate auch ich nicht.
Drei Jahre später, 1339, stiftete Konrad Groß noch das Nürnberger Heilig-Geist-Spital. Er handelte sicher neben einem deutlichen Repräsentationsbedürfnis auch aus religiöser Überzeugung. Da ist sich Peter Fleischmann sicher. Auch der Leiter des Staatsarchivs Nürnberg führte schon Besuchergruppen zu mir her.
Konrad Groß war offenbar auf der Suche nach seinem Seelenheil: Von oben gesegnet oder vom Drachen getrieben? Er hatte nämlich an sich genug Söhne, die seinen stattlichen Besitz erben wollten. Diese fanden die Heilig-Geist-Stiftung des Vaters gar nicht witzig, so ist es überliefert. Das Spital war riesig: 128 Sieche und 72 Pfründner (Rentner) konnten dort leben: „Wie heilsam ist doch die Unterstützung der Armen“, so erklärt es die Stiftungsurkunde, um sich „die Errettung vom ewigen Unglück“ zu verdienen. Groß hatte wohl verdammt Angst und hoffte so darauf, auf diese Weise doch noch Seelenheil zu finden.
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