Intensivkurs über Gerechtigkeit und Freude

Bernd Reuther
Bernd Reuther vor der Vesperkirche. Foto: Borée

Nach sechs Wochen blickt die Vesperkirche wieder auf viele neue Erfahrungen zurück

Wie viele Essen brauchen wir heute? Da lohnt ein Blick in den Wetterbericht, weiß Pfarrer Bernd Reuther. Im vierten Jahr bot seine Gemeinde in der Gustav-Adolf-Kirche Nürnberg nun die Vesperkirche an. Bei Glätte kamen merklich weniger Senioren. Samstags war Familientag – da tobten dann durchaus auch mal die Kleinen durch die Kirche.

Aber auch der Speiseplan hatte Auswirkungen auf die Zahl der ausgegebenen Essen: „Bei Linseneintopf rechnen wir 50 Essen weniger, bei Schnitzel 30 mehr“, so Reuther. Auch das zeigten die langjährigen Erfahrungswerte. Doch konnte er für das Team stolz berichten: „Wir schmeißen nur sehr wenig Essen weg.“ Natürlich mussten Nahrungsmittel, die auf den Tellern übrig bleiben, schon aus hygienischen Gründen entsorgt werden. Aber was sonst bei allen Berechnungen noch nachmittags da war, wurde am nächsten Tag verschenkt. Nur die Box für die Mitnahme kostete einen geringen Pfandbetrag.

Seit dem 13. Januar hatte die Vesperkirche Nürnberg auch in diesem Jahr ihre Pforten geöffnet. Nun ging das Projekt zum 24. Februar auch für 2019 wieder seinem Ende entgegen. Bernd Reuther zog schon zuvor eine erste Bilanz. Es war eine einmalige Begegnungsstätte in den kältesten Wochen des Jahres. Sozial Schwache saßen mit Familien und Senioren an einem Tisch – und daneben Menschen, die hier ihre Mittagspause verbrachten.

Für einen Euro gab es für alle ­tagtäglich ein mehrgängiges Menü – wahlweise vegetarisch oder mit Fleisch. Und als neuen Luxus bot die Kirche nun Fairtrade- und Biokaffee. „Das kommt uns 1.200 Euro teurer“, so Reuther. Ein Großteil sei durch extra Spenden abgefedert.

Ständig arbeiten sie an weiteren Verbesserungen: Viele Handgriffe und manche Wege wurden noch einmal perfektioniert. Die Schlangen der Wartenden auch zu Stoßzeiten genau beobachtet und minimiert. 530 Essen verteilten die Helfer im Durchschnitt am Tag. Dafür waren in der ersten Schicht je 28 und danach noch einmal 20 Ehrenamtliche im Einsatz. Vom Kauf des Essensbons über die Essensausgabe, dem Abräumen des Tabletts und des Geschirrs bis hin zum Abwasch lief mal wieder alles wie am Schnürchen.

Manche Helfer, die mitten im Berufsleben stehen, hatten sich eine ganze Woche Urlaub für die Vesperkirche genommen. Daneben gibt es auch die Unermüdlichen, die schon in Rente sind oder nicht arbeiten. Sie waren täglich da – oder fast. Denn mindestens drei Tage sollten sie sich während der sechswöchigen Vesperkirche schon freinehmen – das ist fast Pflicht.

Auch für Bernd Reuther, der zusammen mit seiner Kollegin Julia Popp die Vesperkirche koordinierte. Er hatte neben seiner Arbeit als ­Pfarrer während der sechs Wochen Vesperkirche so noch ein tagesfüllendes Programm. Nur Beerdigungen gab er während der Zeit an Kollegen ab.

Zu Beginn der Vesperkirchen war er in möglichst vielen der zwölf Abteilungen aktiv – jetzt noch in dreien. Denn immer mehr  Ehrenamtliche übernahmen dort Verantwortung. Dabei wurde nicht nur Essen ausgegeben, sondern die Vesperkirche immer wieder von Veranstaltungen begleitet. Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm hielt im Januar eine Mittagsandacht (wir berichteten). Ministerpräsident Markus Söder war ebenfalls schon da sowie Kommunalpolitiker oder Künstler.

Und wer kam in die Vesperkirche zum Essen? Eine eigene Bachelor-Arbeit befasste sich in den vergangenen Jahren damit: 30 Prozent der Essen gingen an Menschen in der Südstadt, 50 Prozent aus anderen Gebieten Nürnbergs und 20 Prozent der Teilnehmenden fanden ihren Weg in die Gustav-Adolf-Kirche von außerhalb der Stadtgrenzen. Viele kamen täglich und blieben lange – das Angebot strukturierte ihren Tag. Andere schauten kurz während ihrer Mittagspause vorbei. Mindestens jeder vierte Besucher gehörte zur „Laufkundschaft“, war also nur ab und an dabei. Alle vermischten sich miteinander.

Gemeinschaft leben

Daneben gab es für Reuther viele Impulse zu Gerechtigkeitsfrage und zur Zufriedenheit der Menschen. Denn längst nicht alle waren darüber glücklich, für einen Euro ein komplettes Mittagsessen samt Suppe und Nachtisch zu erhalten. Ah, und nicht vergessen, den Kaffee hinterher und meist noch Kuchen.

Nein, immer wieder hätte es Dispute über die Frage gegeben, warum der Nachbar noch einen Nachschlag bekam und man selbst nicht mehr. Oder ein Besucher beschwerte sich beredt darüber, dass ein anderer schon das dritte Stück Kuchen erhalten hätte. „Ja, aber Sie waren doch auch schon zweimal an der Kuchentheke“, erinnert sich Reuther an seine Reaktion. Aber nicht zum dritten Mal, so die Antwort.
Oder wen sollen die Freiwilligen etwa beim Tragen des Tabletts helfen? „Da haben wir schon manches Wunder erlebt“, so Reuther, „von Menschen, die ihr Essenstablett nicht selbst tragen konnten, weil sie kaum selbst zu gehen vermochten.“ Aber dann ohne Stöcke an der Kuchentheke standen.

Stoff genug also für Predigten für das ganze kommende Jahr. Aber wichtig sei es, immer wieder den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Andererseits bildeten sich ganze Freundeskreise beim gemeinsamen Essen. Manche Gruppen trafen sich auch das ganze Jahr über zum Kaffetrinken, weiß Reuther. Und freuen sich schon wieder auf die nächste Runde der Vesperkirche.

Gerade ließ sich noch Susi Südstadt interviewen. Natürlich lautet ihr richtiger Name anders: Susanne Maria. Die Künstlerin und Fotografin berichtete von ihrer Verbundenheit eben mit der Südstadt, fehlenden Treffpunkten im Viertel und über ihre Fotos, die aus Bäumen oder Wolken Gesichter herausschälen.
Immer mittwochs fanden diese Begegnungen statt. Jeder Tag begann mit einer Mittagsandacht.

Daneben liefen vielfältige Kulturveranstaltungen sowie insgesamt 72 Zusatzangebote: Mitarbeitende des Staatstheaters zeigten Einblicke in ihre Arbeit. Es gab Arzt-, Wohnungslosen- oder Rechtsberatung, Fri­seurtermine, Arbeitskreise zur Meditation oder zum Malen. Marga Beckstein bot Tipps zum Schafkopflernen. Vielfältige Angebote ließen sich umsetzen.

Allmählich wird es ruhiger, die Mittagszeit ist vorbei. Da erschallt vom Nebentisch noch lautes Lachen: Eine Runde Helfer, die nach ihrer Schicht noch zusammensitzen, so Bernd Reuther.

Und schließlich kamen in den Sonntagsgottesdiensten während der Vesperkirchenzeit Hunderte von Menschen zusammen, ergänzt der Pfarrer. Viele hatten gar nicht das Essen danach im Blick, sondern  kehrten gleich zufrieden in ihren Sonntag zurück. 

                Susanne Borée

Mehr unter: www.vesperkirche-nuernberg.de