Es brennt – und ihr steht und schaut nur zu

Uwe von Seltmann bei der Arbeit. Foto: Uwe von Seltmann

Lebenslinien in Gottes Hand: Uwe von Seltmanns Biografie über Mordechai Gebirtig

Die ersten Töne klingen wie die Krakauer Feuerwehr, so heißt es. Doch sie fuhr nie los. Noch war es Zukunft, dass „alles verbrannt“ sein sollte. So heißt „Holocaust“ übersetzt, dessen Gedenktag wir gerade begehen. Dem Lied „Es brennt“ kommt da fast prophetische Kraft zu. Es entstand nicht anonym Anfang der 1940er, wie es früher hieß. Auch nicht 1938.

Uwe von Seltmann legt dar, dass das Lied schon 1936 existiert haben muss. Verfasst hat es ein jüdischer Tischler aus Krakau, der noch nicht einmal Noten schreiben konnte: Mordechai Gebirtig. Es entstand offenbar nach einem Judenpogrom in dem Örtchen Prytyk südlich von Warschau im März 1936. Wer sich nun entspannt zurücklehnen mag – schließlich war dies damals eine rein polnische Angelegenheit – irrt.

Denn darum geht es nicht. Es zeigt, wie Unsicherheiten einer Epoche sich in Aggression gegenüber anderen entladen. Und Polen war damals nach dem Tod des legendären Staatsgründers aber auch Diktators Józef Pilsudskis († 1935) alles andere als gefestigt zwischen Stalin und Hitler.

Liedtext

Nicht zufällig klingen viele Worte im Jiddischen seltsam vertraut. Es ist die Sprache Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach, das es bewahrt: Es ist auch die Sprache des mittelalterlichen jüdischen Dichters Süßkind von Trimberg.

Und es ist die Sprache Mordechai Gebirtigs (1877–1942), dessen Spuren Uwe von Seltmann  intensiv vorstellt. Der jiddische Dichter hat sich aus seiner Geburtsstadt Krakau nie weit entfernt. Als Tischler lebte Gebirtig mehr schlecht als recht von der Reparatur alter Möbel mit seiner Frau Blumke und drei Töchtern. Offenbar fehlte ihm die Durchsetzungsfähigkeit, um Tantieme einzufordern, wenn andere seine Lieder aufführten.

Seine  Melodien schuf er auf einer kleinen Flöte. Freunde notierten sie dann. Am 4. Juni 1942 wurde er mit dem Maler Abraham Neumann erschossen. Er erlebte es nicht mehr, dass sein Lied zum Hymne der Aufständischen im Warschauer Ghetto wurde. Zum Holocaust-Gedenken gehört es in Israel zum Standard-Repertoire.
Nach der Wende entdeckte von Seltmann die ersten jiddischen Spuren  in dem heruntergekommensten Viertel Krakaus. Dort hatte einstmals die jüdische Bevölkerung gelebt.

Das Judentum entdeckte Uwe von Seltmann (* 1964) schon in seinem Elternhaus. Während seines Zivildienstes bei der Bahnhofsmission Fürth wohnte er direkt neben der einstigen Synagoge – „also im Herzen des vernichteten fränkischen Jerusalems“. Er ergänzt gegenüber dem Sonntagsblatt: Es „war eine der prägendsten Zeiten in meinem Leben“. Auch während seines Theologiestudiums, das er in Erlangen begann, blieb er bewusst in Fürth wohnen. „Ich bin bis heute sehr verbunden mit Franken und auch regelmäßig dort.“ Auch der Homunculus-Verlag, der die Biografie herausgab, sitzt in Erlangen.

Nach der Wende zog es Uwe von Seltmann Richtung Osten. Von 2004 bis 2008 war er Chefredakteur der evangelischen Zeitung „Der Sonntag“ in Leipzig. Inzwischen arbeitet er als freier Publizist. Und er kümmert sich zusammen mit seiner polnischen Frau Gabriela um die Bewahrung der jüdischen Kultur. Auch an ihn selbst stellten die Recherchen massive Anfragen. Er fand heraus, dass sein Großvater väterlicherseits in der SS war – und mütterlicherseits hatte er jüdische Vorfahren.

Uwe von Seltmann wollte einen Film über Gebirtig zum 75. Todestag  im Jahr 2017 realisieren. Es gab elf Drehtage in Krakau. Doch die Endproduktion ließ sich nicht finanzieren. „Die Recherchen und die Interviews sind ins Buch eingeflossen“, so von Seltmann. Er geht im Buch manchen Nebenpfaden ausführlich nach. Andererseits sind die meisten Lebensjahre Gebirtigs ruhig verlaufen. Und sein Ende nur mühsam zu rekonstruieren. Für 400 Seiten bedarf es da einiger kulturgeschichtlich interessanter Ausblicke  – etwa zum jiddischen Theater.

Was ist denn das „Jiddenditsch“? Nach den Verfolgungen der Pestzeit um 1350 flohen viele Juden aus Deutschland  gen Osten. Mit dabei hatten sie ihre Sprache. Trotz einiger Lautverschiebungen blieb sie erhalten. In deutschen Landen sank sie zwischen Raubritterzeit und territorialer Zersplitterung danieder.

Doch Jiddisch wird mit Hebräischen Buchstaben geschrieben. Es geht unter die Haut, sich da durchzubuchstabieren – und dann murmeln die Lippen plötzlich Worte wie „feld“, „vald“ oder „nacht“. Noch heute suchen Germanisten, wenn irgendwie möglich, nach Jiddischen Muttersprachlern, um sich von ihnen Minnelieder oder den Parzifal vorlesen zu lassen. Doch nach dem Holocaust sprechen nur noch wenige hunderttausend Menschen Jiddisch – meist streng orthodoxe Juden. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehören wohl nicht alte Liebes- oder Heldenlieder in deutscher Schrift.

Gebirtig war nicht orthodox religiös, meint Uwe von Seltmann. Eher gehörte er zu den „Bundisten“. Diese „erwarteten nicht die Ankunft des Messias, noch hatten sie vor, nach Palästina auszuwandern“. Eher wollte der Dichter kulturelle Autonomie aller Volksgruppen. Die Lieder verbreiteten sich meist mündlich.

Gerade im letzten Viertel seines Werkes deutet von Seltmann feinfühlig die Gedichte aus, von denen 170 erhalten sind: „Meine Seele ist noch jung, / vor Sehnsucht sie vergeht, / ach, wie gerne wollte sie / aus dem alten Leib heraus“ – auch wenn „unter geyt di velt“. Damals blieb die Feuerwehr aus. Wer löscht heute?

Uwe von Seltmann: Es brennt! Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes, Homunculus-Verlag Erlangen 2018, 400 Seite, 38 Euro.

               Susanne Borée