Wie wird sich unser kirchliches und kirchengemeindliches Leben gestalten?“ So fragte das Rothenburger Sonntagsblatt in seiner Ausgabe zum 12. Januar 1919. Damals konnte niemand sagen, wohin die Umbruchsituation nach dem November 1918 (wir berichteten) führen würde. Die Fragen ließen sich gar noch konkreter fassen: „Was wird aus dem Religionsunterricht für unsere Kinder werden? Werden wir die schweren Prüfungen, die uns auf kirchlichem Boden bevorstehen, glücklich durchmachen?“
Auch darauf gab es noch keine Antwort. Nur folgenden Rat: „Draußen war das Kommando häufig: Haltet die Stellung! Und jeder Mann gab an Kraft das Äußerste her, um die Stellung zu halten. Haltet die Stellung – jetzt richtet sich die Forderung an uns in der Heimat und unser Wille ist nicht einen Augenblick fraglich.“ Was blieb noch sicher? „Ein ungewohnter Weg steht uns bevor, aber die Kraft des Herrn wolle sich zu uns bekennen. Wir demütigen uns unter die gewaltige Hand Gottes und warten, ob er uns erhöhen will zu seiner Zeit.“
Nach der Revolution in Bayern Anfang November 1918 und der Gründung des Freistaates (Sonntagsblatt vom 4. November 2018, Seite 10 und 19) war die politische Lage im neuen Freistaat keineswegs übersichtlicher geworden. Auch zu Beginn des Jahres 1919 konnte noch niemand sagen, wohin die weitere Reise gehen würde.
Neues Wahlrecht
Zur Erinnerung: Wahlen standen in Bayern erst zum 12. Januar an. Kurt Eisner zeigte sich als Übergangs-Ministerpräsident immer noch zögerlich. Lediglich die Trennung von Staat und Kirche sowie das Ende der kirchlichen Schulaufsicht waren bereits beschlossen. Wolfgang Sommer, ehemaliger Kirchengeschichtler an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, hat auch für 1919 viele Gedanken und Konzepte damaliger evangelischer Kirchenrepräsentanten dokumentiert. Dies geschah für seinen Vortrag „Die bayerische Landeskirche im Revolutionsjahr 1918/19“, von dem das Sonntagsblatt bereits im November berichtete. Daneben stehen die Gedanken aus dem Arhchiv des Sonntagsblattes.
Da geht er ausführlich auf Gedanken des damaligen Nürnberger Dekans Friedrich Boeckh (1859–1930) ein: „So sehr er die Freiheit der Kirche begrüßt, so sehr fordert er die freie Religionsausübung vom Staat. Zu ihr gehört eine neue Verfassung der Kirche sowie eine finanzielle Neuordnung.“ Dieser wollte der Generalsynode ein neues Gewicht geben. Dort sollen die Gemeinden vertreten sein und so Anteil an der Kirchenleitung gewinnen.
„Das Frauenwahlrecht im gleichen Umfang wie das Männerwahlrecht“ sieht Boeckh als notwendige Folge der Revolution an. 1919 durften Frauen erstmalig zur Wahl gehen. Bei den Wahlen sollten Frauen unbedingt teilnehmen, obwohl es für sie ja noch ungewohnt war – das war auch die Meinung des Rothenburger Sonntagsblattes. Schon Ende 1918 meinte das Blatt: „Wahlpflicht ist diesmal das Ablegen eines Bekenntnisses.“ Und weiter hieß es: „Parteien gibts genug. Wähle jedes, wie es sein Tun vor seinem Gewissen, vor seiner Kirche und vor dem Vaterland verantworten kann.“
Allerdings warnt Boeckh davor, dass sich das kirchliche Wahlrecht dem staatlichen völlig anpasst. Er wünschte sich eine indirekte Wahl zur Generalsynode, damit sie nicht „zum Tummelplatz politischer Leidenschaften“ würde. Aber er wollte auch keine Notabelnversammlung.
Kirche und Schule
Während die Kirche noch ihre Struktur suchte, waren gerade andere aktuellen Probleme drängender: Was sollte etwa an die Stelle der kirchlichen Schulaufsicht und des kirchlichen Religionsunterrichtes treten? Schließlich wollten die Revolutionäre den Religionsunterricht als Pflichtfach in den Schulen abschaffen. Schüler durften nicht mehr daran teilnehmen, wenn ihre Erziehungsberechtigten das nicht mehr wünschten.
Es hätte bereits zuvor keinen Zwang zum Besuch von Gottesdiensten oder Ähnlichem gegeben, meinte das Rothenburger Sonntagsblatt dazu in seiner Ausgabe zum 23. Februar 1919. Doch es sollte allen klar sein, „daß einem heranwachsenden Menschen kaum ein größerer Seelenschaden widerfahren kann, als wenn ihm der Religionsunterricht vorenthalten bleibt, der ihm die Kirche darbieten will“.
Und das Sonntagsblatt zitiert einen Einspruch des Protestantischen Oberkonsistoriums: „In einem demokratisch regierten Staat konnten so einschneidende Verordnungen über den Religionsunterricht überhaupt nicht gefasst werden, ohne dass die Volksvertretung gehört wurde.“ Dass die Änderungen schließlich deutlich moderater ausfielen, scheint auch ein Verdienst des Protestes von Seiten der Kirche und der Gemeinden gewesen zu sein. Stellung gehalten? Nun mussten neue Grundlagen für einen zeitgemäßen Religionsunterricht her.
„Das Ende der geistlichen Schulaufsicht wurde dagegen allseits begrüßt“, so Sommer, „wenn auch die Art und Weise ihrer Abschaffung kritisiert wurde.“ Aber die hinter den geistlichen Schulinspektoren stehenden, verkrusteten Strukturen lösten sich nur sehr langsam auf.
In der Zeitschrift „Christentum und Gegenwart“, die Johannes Kern in Nürnberg herausgab, schreibt der langjährige Hauptprediger an St. Sebald, Christian Geyer 1919: „Es ist uns durchaus noch nicht gewiß, ob es den jetzt führenden Männern gelingen wird, eine wirkliche neue Ordnung an die Stelle der zusammengebrochenen alten zu setzen. Aber gerade weil wir uns der Lauterkeit und Uneigennützigkeit unserer Gesinnung bewußt sind und gerade weil uns alles daran liegt, daß Ordnung werde und Ordnung bleibe, dürfen wir nicht nur Zuschauer, sondern müssen Mitarbeiter sein ... Je ernster es uns Christen um die Nachfolge Christi zu tun ist, desto weniger dürfen wir grollend beiseite stehen.“ Auch dies dokumentiert Sommer.
Das evangelische Oberkonsistorium und ihr Präsident Friedrich Veit stellten sich rasch auf die neue Situation ein und wollten am Aufbau des Freistaates Bayern aktiv beteiligt sein. „Keine Regierungsform kann sich für die allein christliche halten und der sogenannte christliche Staat wird abgelehnt“, so Sommer.
Und er schließt: Die Kirche wollte zunächst abwarten, wünschte aber Ruhe und Ordnung. Sie öffnete sich den Anfragen der neuen Zeit, hielt sich aber „vom tagespolitischen Meinungskampf“ fern. Nach dem gewaltsamen Ende der Münchner Räterepublik durch rechte Freikorps änderte sich dies, wurde aber erst später wirksam.
Susanne Borée
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