Wächteramt der Kirche: Was heißt es heute?

Christoph Sigrist
Christoph Sigrist. Foto: Borée

Der Züricher reformierte Pfarrer Christoph Sigrist über seinen Vorgänger Zwingli

"Es ging ihm um Gerechtigkeit.“ So fasst Pfarrer Christoph Sigrist das Wirken Ulrich Zwinglis in einem Satz zusammen. Das Zwingli-Jahr 2019 ist für ihn ein guter Anlass zu hinterfragen, was Kirche in einer Stadt wie Zürich für Spuren hinterlassen kann.

Christoph Sigrist ist der 33. Nachfolger Zwinglis an der Züricher reformierten Hauptkirche, dem Grossmünster. Diese Zahl habe zumindest einer seiner Söhne mal nachgerechnet, schmunzelt der Pfarrer. Dann ist er wieder ernst: Das Zwingli-Jahr 2019 ist für ihn kein Grund zum Feiern, eher ein Gedenkjahr, „so lange die Kirche noch gespalten ist“.

Zwingli wäre heute wütend. Da ist sich Christoph Sigrist sicher. Dem Reformator „lupft‘s de Huet“ – also: platze die Hutschnur oder der Kragen – wenn er sich heute umschauen würde. Und Zwingli ist zurückgekehrt. Als bunte Figuren wie auch vor ein paar Jahren in Deutschland die bunten, kleinwüchsigen „Lutherlinge“. Doch die größeren „Zwinglinge“ tragen politische Botschaften weiter: Gegen die allgemeine Vermüllung mit Plastik. Ein „Entschleunigungs-Zwingli“, dem die Ziffern von der Uhr purzeln oder ein „Bischofs-Zwingli“, der die Frage nach religiöser Identität und Vorherrschaft stellt (Bild Mitte) und noch viele mehr. Einer sucht eine Wohnung, ein anderer demonstriert fürs Klima und noch einer trägt eine 3D-Brille, mit der er in die Ferne schaut und den Bücherstapel vor ihm nicht mehr wahrnimmt.

Bis zum Nikolaustag, dem 6. Dezember, wollen sie die Stellung halten und auf ihre Anliegen hinweisen oder zum „Gsprööch“ über verschiedene soziale Anliegen einladen. Dann werden sie zugunsten sozialer Anliegen versteigert. Sie halten die Stellung, da der berühmte Zwingli, das Denkmal an der Wasserkirche, gerade vom Sockel gestiegen ist. Er musste ausgerechnet zum Jubiläum renoviert werden.

Was ist das Wesentliche? Darauf lenke Zwingli den Blick, so Pfarrer Sigrist. Das ist für ihn auch der Sinn des reformierten Bilderverbots in Kirchen. „Immer wieder fragen Besucher, ob das Grossmünster noch in Betrieb ist.“ Nach dem reformierten Bildersturm wirkt es ohne Statuen auch für lutherische Besucher irgendwie kahl, unfertig. Aber für eine historische Kirche hat es auch etwas Wuchtiges, Erhabenes. Zu Zwinglis Zeiten „war der Kirchenraum korrumpiert“.

Die Leere bietet für Sigrist auch Inspiration. Und das gelte auch für die Züricher Bibelübersetzung. Schließlich war sie ja kein eigenes Werk Zwinglis oder einer anderen Person. Sie geschah als Gemeinschaftsleistung im öffentlichen Raum, nämlich genau dort im Chor des Grossmünsters. Im Prinzip konnte jeder mitmachen – natürlich nur bei genügend Bildung und Zeit.

„Wir haben unser Bestes gegeben, aber es kann sein, dass unsere Nachfolger es besser machen: Genau das schrieb Zwinglis Mitstreiter Leo Jud ins Vorwort“, zitiert Christoph Sigrist. Gottes Wort sei immer unverfügbar, aber verflüchtige sich immer wieder und sei vergänglich.

Schließlich lebe auch Gemeinde nicht im luftleeren Raum, sondern „Kirche ist politische Gemeinde“. Natürlich sieht Sigrist das Problem, dass „Zwingli sich der Politik untergeordnet“ hat: Der Umgang mit Andersdenkenden, mit den Täufern, sei eine Schattenseite Zwinglis „wie bei Luther der Antisemitismus“. Bereits 2004, ein Jahr nach dem Amtsantritt Christoph Sigrists am Grossmünster, gab es eine Versöhnungsfeier mit den Täufern.

Dagegen steht aber der hohe soziale Anspruch Zwinglis. Schon zu Beginn seiner Tätigkeit wandte er sich gegen das „Reislaufen“, dass sich Arme als Söldner an ausländische kriegsführende Mächte verkaufen mussten. Das habe um 1520 rund 40 Prozent des Züricher Staatshaushaltes ausgemacht. Da mussten Lösungen her, „um den Staatshaushalt anders zu bestücken“, zumal auch viele Arme zu versorgen waren. Die Lösung: Die Klöster mit ihren Pfründen zu verstaatlichen.

Auch heute gibt es in Zürich neben großem Reichtum auch viele abgehängte Menschen. Mieten und Lebenshaltungskosten sind für viele kaum mehr tragbar.
Die Diakonie und ihre sozialen Anliegen liegen Christoph Sigrist in reformierter Tradition am Herzen. Neben seiner Pfarrstelle am Grossmünster engagiert er sich in der ­Gemeindediakonie in der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Und er ist Mitglied oder Präsident in verschiedenen diakonischen Stiftungen und in übergemeindlichen Gremien.

Dies sind für ihn alles reformierte Anliegen, obwohl Zürich längst nicht mehr die Hauptstadt dieser Konfession ist. Nahm die Reformation Ulrich Zwinglis hier vor 500 Jahren ihren Ausgangspunkt, so sind inzwischen nur noch gut ein Viertel der Einwohner reformierten Bekenntnisses – und von den Schweizer Bürgern in der Stadt noch ein Drittel. Es gibt auch viele Katholiken. Ein weiteres Viertel ist konfessionslos. Die unterschiedlichen Zahlen kommen zustande, da neben vielen Touristen ein Drittel der Einwohner kein Schweizer Bürgerrecht hat. Neben Managern aus aller Welt, die dort arbeiten, sind auch viele Flüchtlinge  und Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus darunter.

Auch für sie sollte Kirche eintreten. Schließlich nahm Zürich auch in Reformationszeiten viele religiöse Flüchtinge auf. Christoph Sigrist hält das „Wächteramt der Kirche“ gegenüber politischen und auch wirtschaftlichen Interessen hoch. Insofern ist das Jubiläum Grund zum Weiterdenken.

                   Susanne Borée